Gespräch mit Werner Rügemer, einer Stimme aus dem anderen Deutschland

 

Von Fausto Giudice

Werner Rügemer gehört zweifellos zu jenem „anderen Deutschland“, das wir lieben, dem der „Dichter und Denker“, das einen jahrhundertelangen Kampf gegen das der „Richter und Henker“ führt. Es erschien uns dringend notwendig, ein Gespräch mit ihm zu führen.-FG

Lieber Werner, am 4. September 2021 wirst Du 80 Jahre alt und die Bundesrepublik Deutschland 72 Jahre. Wir denken, es wäre an der Zeit, Bilanz zu ziehen – persönlich wie kollektiv. Fangen wir mit der persönlichen Bilanz an: Was wolltest Du mit 20/30 Jahren erreichen? Hast Du es erreicht? Worauf bist Du am meisten stolz? Was bedauerst Du am meisten?

Im Alter von 20/30 Jahren wusste ich nicht genau, was ich erreichen wollte. Ich arbeitete mich wie ein halbblinder Maulwurf aus der nachfaschistischen Zeit heraus. Mein Vater, Volksschullehrer, hatte mich seit seiner Rückkehr aus der Wehrmacht ab 1945 viel verprügelt, das war damals sowieso erlaubt. Ich bekam lebensgefährliches Asthma.

Ich wurde in ein Internat in den Alpen geschickt, „wegen der guten Luft“: Das Internat war bei Berchtesgaden auf dem Obersalzberg, schön gelegen oberhalb des Königssees und gegenüber dem höchsten Berg Deutschlands, dem Watzmann. Das Internat mit Gymnasium gehörte zum Christlichen Jugenddorfwerk Deutschlands (CJD): Es war nach 1945 gegründet worden von Prof. Arnold Dannenmann, der 1933 die Nazi-Kirche „Deutsche Christen“ gegründet hatte. Nach dem Krieg sammelten sich die meisten Nazis unter christlichem Label, auch in den beiden christlich lackierten Parteien CDU und CSU unter Führung des CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzlers Adenauer:Er war seit der Kaiserzeit vor dem 1. Weltkrieg im katholischen Köln mit Unterstützung von Bankern und Unternehmern politisch einflussreich geworden und hatte diese Stellung auch nach dem 1. Weltkrieg weiter ausgebaut.

Am Obersalzberg hatte die Nazi-Prominenz mit Hitler, Göring und anderen bis 1945 ihre Neben-Residenzen. Das Internat war nach 1945 untergebracht im Anwesen des Ex-Vorsitzenden der NSDAP, Martin Bormann. Die Lehrer waren meist Ex-Nazis. Das CJD hatte enge Beziehungen zur Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeber (BDA). Im Internat waren Söhne von Unternehmern und Diplomaten. Der Star-Schüler war der Sohn des Führer-Stellvertreters Rudolf Hess, der damals im Gefängnis war. In den Bergen ringsum spielte sich viel nazi-nostalgischer Tourismus ab – ich konnte das alles erst viel später verstehen.

Nach dem Abitur 1960 am Obersalzberg studierte ich Germanistik, Romanistik und Philosophie in München, Tübingen und Berlin. Ich besuchte linke Versammlungen und Demonstrationen, trat aber keiner Organisation bei. 1968 gründete ich in Berlin mit sozialistischen Studenten die Kritische Universität. Dann ging ich ein Jahr nach Paris und wohnte bei einem Vietnamesen: Er hatte zwei US-Soldaten aufgenommen, die aus Vietnam desertiert waren. Ich hatte mein Lehrer-Studium abgeschlossen, wollte aber kein staatlicher Lehrer werden. Nach Paris war ich deshalb bis 1974 Geschäftsführer der deutschen Sektion der pazifistischen Organisation Service Civil International und organisierte internationale workcamps. Danach war ich bis 1989 angestellter Redakteur der Zeitschrift Demokratische Erziehung, nebenbei machte ich einen Doktor zum Thema „philosophische Anthropologie“. Ich wurde dann arbeitslos und schlage mich seitdem vor allem als „freier“ Autor durch.

Worauf ich stolz bin? Schwierig. Jedenfalls freue ich mich, dass der Maulwurf vergleichsweise gut, wenn auch mit bleibenden Wunden, sich durch die unklaren Verhältnisse durchgewühlt hat. Und dass einige Menschen meine Arbeit schätzen.

Was ich am meisten bedauere? Dass ich mit meinen Eltern, insbesondere mit meinem Vater, bis zu deren Tod keine Aussöhnung hingekriegt habe. Als späten und leider nur klein-symbolischen Ersatz habe ich ihnen 2016 ein Buch gewidmet: Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur.

Jetzt zu Deutschland, der bleichen Mutter. Du warst 8 Jahre alt, als die BRD gegründet wurde, 1968 warst Du 27. Bei der „Wende“, der „Wiedervereinigung“ Deutschlands warst Du 51. Ist Deutschland immer noch ein Wintermärchen? Wie hat sich die Gesellschaft verändert, was hat sich kaum verändert? Welches sind die neuen Formen des Widerspruchs zwischen den „zwei Deutschländern“, das Deutschland der „Richter und Henker“ und das Deutschland der „Dichter und Denker“?

Die Bundesrepublik Deutschland, auch nach der Erweiterung um die Ex-DDR 1990, wird von den USA dominiert, militärisch, geheimdienstlich, investiv, medial, kulturell, moralisch – mit menschenrechts- und völkerrechtswidrigen „Werten“. Kein anderer Staat der Welt hat – zudem neben der NATO-Mitgliedschaft – mit etwa drei Dutzend US-Militärstützpunkten eine so dichte US-Militärpräsenz: Dabei sind einige Stützpunkte zentrale Knotenpunkte für weltweite Logistik, z.B. für Drohneneinsätze in Afrika und Asien und für den Aufmarsch gegen Russland. Ich habe das in Veröffentlichungen immer wieder dokumentiert, über die Privatisierung öffentlicher Unternehmen, über die Rolle der führenden US-Ratingagenturen, der US-Wirtschaftskanzleien und der US-Unternehmensberater.

Seit dem Aufkauf der DDR-Unternehmen und dann verstärkt durch die Finanzkrise 2008 wurde der investive Zugriff von US-Investoren noch direkter: BlackRock, Vanguard, State Street u.ä. sind heute bei weitem die wichtigsten Eigentümer der wichtigsten Banken und Unternehmen im Standort Deutschland, wie etwas weniger auch in anderen EU-Staaten. Mit der Pandemie und der Digitalisierung werden Apple, Google, Amazon, Microsoft, Facebook, Zoom & Co und ihre Großaktionäre wie Blackrock noch mächtiger, auch mit Daueraufträgen des Staates, im Gesundheitswesen und in Unternehmen.

Die arbeitende Klasse ist zwischen Prekären, Gigworkern und Illegalen über Arbeitslose, Migranten, an Zahl abnehmende „Normalverdiener“, privilegierte Beamte und bis hinauf zu den sehr gut verdienenden Managern der herrschenden Klasse so sozial und politisch zersplittert wie noch nie. Die traditionellen Linken, Gewerkschaften, demokratische Initiativen sind jeweils in sich zerstritten, verunsichert, übernehmen teilweise Positionen der herrschenden Ideologie (z.B. gegen China und Russland, identitäre „Werte“), haben aber kaum Ahnung vom gegenwärtig erneuerten Kapitalismus und den Weltverhältnissen.

1984 hast Du das vielleicht erste Buch über Silicon Valley veröffentlicht: „Neue Technik – alte Gesellschaft. Silicon Valley“. Wir waren damals in der Frühzeit der neu-kapitalistischen, neoliberalen Ära. 34 Jahre später hast Du „Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts“ veröffentlicht. Wie würdest Du diese vier Jahrzehnte zusammenfassen? Was war damals schon klar und was geschah, das unerwartet war?

Ja, es war das erste Buch über Silicon Valley, auch in den USA war noch keines erschienen. Die neuen sauberen Technologien, die die Menschen besser und schneller verbinden – ich glaubte diesen sauberen Mythen nicht: Ich bin 1983 und 1984 dort hingereist und habe mir das vor Ort genau angesehen. US-amerikanische Friedensaktivisten, die damals auch nach Deutschland kamen, um mit uns gegen die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen zu protestieren, halfen mir dabei.

Silicon Valley – das war schon mit der Gründung im und nach dem 2. Weltkrieg so „neoliberal“ wie einige Jahrzehnte Jahre später der gesamte, US-geführte westliche Kapitalismus: Enge Verbindung von high tech-Unternehmen wie Hewlett Packard mit Militär und Geheimdiensten; die private Elite-Universität Stanford in Palo Alto als Keimzelle; keine Gewerkschaften, so gut wie keine demokratischen und linken Organisationen. In Silicon Valley habe ich 1983 bei meinen Feldforschungen zwischen San Francisco, Mountain View und San José mich mit Gewerkschaftern und Friedensaktivisten getroffen – sie waren isoliert, aber sehr tapfer. Ich traf Anwälte, Feuerwehrleute, kritische Professoren der Stanford University und auch Steve Jobs, der mit Apple im Aufstieg war. Ich traf auf rechtlose Niedriglöhner in sweat shops: Die Herstellung der Chips wurde ausgeführt vielfach durch illegale Migranten aus Mexiko, den Philippinen und vietnamesische boat people. Arbeitsschutz gab es nicht, die giftigen Dämpfe bei der Chipproduktion wurden direkt eingeatmet. Ich traf dort Chiparbeiterinnen, denen die Haare ausfielen und die Fehlgeburten hatten.

Ein wichtiger Unterschied zu später und heute: Damals Anfang der 1980er Jahre wurden die Chips und Endgeräte noch in Silicon Valley gebaut. Ende der 1980er Jahre begann die systematische Auslagerung von Produktion, dann auch bei anderen Branchen wie Auto und Pharma, insbesondere nach China und Taiwan, dann auch in andere Staaten wie Indien, Vietnam und Mexiko. Konzerne und Berater aus den USA haben das begonnen, die gesamte westliche Wirtschaft folgte, die deutsche vorne dabei.

Das führte zur De-Industrialisierung, zuerst und am massivsten in den USA, begleitet von working poor: Ein nachhaltig wachsender Teil der abhängig Beschäftigten hat Arbeit, bleibt aber arm. Das reicht inzwischen weit in den „Mittelstand“ hinein: Mindestens zwei Mitglieder der Familie müssen arbeiten, müssen Zweitjobs annehmen, sind dauerhaft überschuldet. Das habe ich 1986 zum ersten Mal für Deutschland in der gewerkschaftlichen Zeitschrift WSI-Mitteilungen als systemische Entwicklung dargestellt. Dass dies vierzig Jahre später auch in der EU soweit kommen würde, habe ich damals nicht geahnt.

Working poor bedeutet zugleich working sick: Du bist arm, wirst früh chronisch krank und stirbst früher. Diese Verbindung von working poor mit working sick zeigte sich zuletzt in besonderer Schärfe während der Corona-Pandemie, etwa bei den schwarzen und migrantischen Arbeitern in der US-Fleischindustrie, ähnlich aber auch in der EU und in Deutschland. Neben den direkten neuen EU-Mitgliedsstaaten wie Ungarn, Polen, Kroatien, Slowenien, Rumänien, Litauen werden auch assoziierte und „Anwärter“-Staaten in dieses System einbezogen, so etwa Montenegro, Serbien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina. Bei der Gründung von Niederlassungen sind auch die neuen großen Digitalkonzerne aus den USA sehr aktiv: Amazon, Google, Microsoft nutzen es, dass sich dort arbeitslose und billige Fachkräfte anbieten.

So wurde etwa Nord-Mazedonien in den letzten Jahren zum neuen „Bangladesh“ innerhalb Europas ausgebaut: Hunderte Zulieferfirmen produzieren mit Niedrigstlöhnen – Mindest-Bruttolohn 283 Euro pro Monat, der aber nicht immer ausgezahlt wird – für die westeuropäischen Textil-Edelmarken wie Boss, Versace, Gucci, Strellson, Escada, Max Mara, Seidensticker, Jack&Jones. Damit entkommen diese Konzerne der weltweiten Kritik an den Verhältnissen in Bangladesh, haben kürzere und billigere Transportwege und bekommen noch Subventionen der EU. In ähnlicher Weise wurde der Kleinstaat Litauen zur Logistik-Zentrale der EU ausgebaut: Der dortige Girteka-Konzern beschäftigt zehntausende LkW-Fahrer aus Polen, der Ukraine, Weißrussland, Moldau.

Dabei werden die osteuropäischen Volkswirtschaften verarmt. Ein Fünftel bis ein Drittel der Bevölkerung, meist die Jüngeren, wandern zeitweise oder dauerhaft aus, die Älteren bleiben zurück und werden durch die verfallenden Infrastrukturen immer schlechter versorgt, während eine einheimische Oligarchie mit ihren Clans, vom Westen politisch und finanziell gestützt, ihren Reichtum ziemlich offen auslebt.

Eine wesentliche Entwicklung bei der „Ost-Erweiterung“ besteht darin: EU und NATO bewegen sich im Geleitzug, und meistens war und ist die NATO schon früher da, so zum Beispiel in Ungarn, Polen, Tschechien, zuletzt in Nord-Mazedonien und den baltischen Staaten. Das hat auch mit dem von den USA angeführten Krieg gegen das sozialistische Jugoslawien zu tun. Unter US-Führung wurde das Kosovo von Serbien völkerrechtswidrig abgetrennt, damit die USA dort einen ihrer größten internationalen Militärstützpunkte unterhalten können: Camp Bondsteel, benannt nach einem hochdekorierten US-Offizier, der am Krieg gegen Vietnam teilgenommen hatte. Diese investiv-militärische „Ost-Erweiterung“ von EU mit NATO habe ich in dem Buch Imperium EU: ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr (2020) untersucht.

Die größte Überraschung seit den globalen Auslagerungen, die vor 40 Jahren begannen, müssen wohl die westlichen Unternehmen erleben: Die Billigmontage ihrer Geräte in China funktioniert immer weniger, und ihre mit den US-Geheimdiensten organisch verbundenen Apps sind aus China und Hongkong verbannt. Die Volksrepublik hat sich – im Unterschied zu allen anderen Entwicklungsländern wie Indien – zu einer eigenen, nachhaltigen Volkswirtschaft entwickelt, mit nachhaltig steigenden Arbeitseinkommen für hunderte Millionen Beschäftigte und Mittelständler, mit technischen Innovationen etwa bei der Entwicklung öffentlicher Verkehrssysteme sowie mit Anerkennung in der transkontinentalen Neuen Seidenstraße.

Tausende westliche Unternehmen überleben beim volkswirtschaftlichen und technologischen Niedergang ihrer Herkunftsstaaten nur noch durch Produktion und Verkauf in China, so etwa die führenden deutschen Autokonzerne wie Volkswagen und deutsche Maschinenbauer und Pharmakonzerne – aber das ist nur ein Zustand auf Zeit. Denn China arbeitet schrittweise verstärkt an seiner wirtschaftlichen, finanziellen, technologischen Selbständigkeit.

Deshalb nimmt seit der US-Präsidentschaft von Barack Obama die Aufrüstung und Feindhetze gegen China zu, eingeschlossen den möglichen atomaren Erstschlag. An dieser Strategie beteiligt sich inzwischen auch die EU. Aufrüstung, Hetze und Wirtschaftssanktionen richten sich nicht nur gegen China selbst, sondern auch gegen die wichtigsten Kooperationspartner der Volksrepublik, also Russland, den Iran und andere. Das habe ich in dem Buch Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts (2018) dargestellt.

Insbesondere die USA können sich aus ihrem wirtschaftlichen Abstieg als Volkswirtschaft nicht befreien. Die auch politische Dominanz der Kapitalorganisatoren – heute BlackRock, Vanguard, State Street, Fidelity, Wellington, Blackstone, KKR, Carlyle & Co, begleitet von den Beraterkonzernen wie Accenture, McKinsey, Freshfields, Price Waterhouse Coopers & Co – ist tief eingebrannt in die Herrschaftsstrukturen. Diese neue Kapital-Elite kümmert sich nicht um die US-Volkswirtschaft – wie auch nicht um andere Volkswirtschaften wie in der EU und Südamerika, in denen sie große Filialen haben – und lässt einen wachsenden Teil der Bevölkerung dahinvegetieren. Es bleibt für diese Elite aber die USA als Standort für die militärische, geheimdienstliche und mediale Absicherung. Sie besteht vor allem aus den Militärbündnissen, allen voran der NATO mit ihren jetzt 30 Mitgliedsstaaten; dann aus den etwa 1.000 festen Militärstützpunkten rund um die Erde; und aus den direkten und indirekten Militärinterventionen wie aktuell in Afghanistan, Syrien, Jemen und Irak.

Die relative Rationalität der US-Eliten, die noch im alten „Kalten Krieg“ gegen die wirtschaftlich schwache Sowjetunion möglich war, kann heute im Existenzkampf des Westens in zugespitzten Situationen – die der Westen selbst verursacht hat – verloren gehen. Ein neuer Weltkrieg ist vom US-geführten Westen aus möglich. Dagegen müssen wir alle Kräfte mobilisieren. Dabei müssen wir aber nicht „die Menschheit“ retten – mehrere Mächtige müssen wir überhaupt nicht retten, im Gegenteil. Vielmehr müssen diejenigen sich zusammentun, die für die Menschenrechte und das Völkerrecht kämpfen, mit dem Ziel des Sozialismus, der allerdings anders und schwieriger zu erreichen ist als das im 19. und 20. Jahrhundert vielfach erhofft wurde. Die Volksrepublik China zeigt etwas von diesem neuen Weg.

Wir möchten Dich bitten, uns das Wichtigste über diese drei Schlüsselworte zu sagen: Arbeitsunrecht, Fertigmacher und… Heinrich Heine: Was sagt er uns heute?

ArbeitsUnrecht: Nach den beiden Weltkriegen hatten die Arbeiterbewegungen in Europa, die Sowjetunion, dann die anderen sozialistischen Staaten und auch zunächst befreite Ex-Kolonialstaaten in ihrer Weise sowie die westlichen linken Bewegungen für die abhängig Beschäftigten neue Rechte erkämpft. Schon 1919 etwa war im Völkerbund die International Labour Organisation ILO gegründet worden: 8-Stunden-Tag, 40-Stunden-Woche, bezahlter Urlaub, gleicher Arbeitslohn für Mann und Frau standen auf dem Programm. Die UNO nahm nach dem 2. Weltkrieg in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auch die Arbeitsrechte auf, einschließlich des Rechts auf Arbeit und etwa auch auf Wohnung, soziale Sicherheit und freie Gewerkschaften. Nach 1945 wurden, nicht nur in den sozialistischen Staaten, sondern so auch in westeuropäischen Staaten wie Frankreich, Italien, Belgien, Großbritannien auch in der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland Rechte für Beschäftigte und Gewerkschaften durchgesetzt.

Doch, wie schon erwähnt, die EU als Kapital-Bürokratie agierte von Anfang an dagegen, anfangs auch mithilfe des Marshall-Plans. Die Amerikanisierung der Arbeitsverhältnisse – orientiert am umstandslos kündbaren job – wurde auch in und mit der EU in Europa schrittweise durchgesetzt, zuerst durch Konzerne wie McDonalds und UPS direkt, später durch US-Investoren wie BlackRock und Blackstone, dann ab etwa den 2000er Jahren durch die Übernahme des in den USA entwickelten Union Busting.

In meinem letzten Buch Imperium EU: ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr habe ich die Lage der arbeitenden Klasse im westlichen Kapitalismus, insbesondere in der EU bilanziert: Niedergang der sozialpartnerschaftlich eingebundenen, meist sozialdemokratisch vernetzten Gewerkschaften, aber auch der zögernde, sehr schwierige Anfang von neuen, auch internationalen und internationalistischen Widerstandsformen.

Fertigmacher: Die Fertigmacher sind keine anderen als die professionellen Union Buster. Sie zermürben, zerstören, verhindern die kollektive Vertretung der Beschäftigten in den Unternehmen. Das know how wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts in den USA entwickelt. Dafür steht am Anfang die Detektei Pinkerton. Gründer Allan Pinkerton hatte den militärischen Geheimdienst der Nordstaaten im Bürgerkrieg geführt – nach dem Krieg setzte er die Pinkerton Detective Agency im Auftrag von Unternehmen gegen Streikende ein, auch mithilfe von bewaffneten Hundertschaften, besorgte später auch Streikbrecher. Bis heute „zivilisierten“ sich diese Profis, agieren als Anwälte, PR-Berater, Arbeitspsychologen, die Konzernführungen richten Abteilungen für Human Ressources ein. Gerade die großen Digitalkonzerne wie Amazon und Google spähen nicht nur ihre Kunden aus, sondern haben auch Ausspähungs- und Kontrollsysteme eingerichtet, um vor allem die unteren Schichten der Beschäftigten zu kontrollieren, von Gewerkschaftsbildung abzuschrecken und zur Arbeit zu hetzen.

Heinrich Heine: Das weltbekannte Großgedicht „Deutschland – ein Wintermärchen“ fand ich gar nicht so toll, obwohl es auch in linken Kreisen ständig zitiert wird.  Allerdings: Ich war in den 1970er Jahren in Köln gelandet, in der Stadt Adenauers. Ich hatte mir die Verhältnisse in dieser katholisch-karnevalistischen Stadt genauer angesehen, hatte mich mit dem Buch Colonia Corrupta hier beliebt und in den herrschenden Kreisen sehr unbeliebt gemacht und bekam Auftrittsverbote in öffentlichen Räumen. Da freute es mich besonders, dass Heine im Wintermärchen Napoleon lobte: Er hatte beim Einmarsch aus dem katholischen Dom zu Köln einen Pferdestall gemacht. Das fand ich sehr gut!

Ich liebte aber den politischen Publizisten Heine. Deswegen wurde sein letztes Buch Lutetia das wichtigste für mich – es ist bis heute in linken wie rechten wie auch in literaturwissenschaftlichen Kreisen so gut wie unbekannt. Es enthält die journalistisch-literarisch-philosophischen Darstellungen Heines über den sich in Frankreich entwickelnden Hoch-Kapitalismus. Der hat einige Ähnlichkeiten zum heute entfesselten westlichen Kapitalismus.

Deshalb montierte ich Auszüge aus Lutetia zu der einstündigen szenischen Lesung Sie predigten öffentlich Wasser und tranken heimlich Wein. Diese Lesung wird in kleinen Theatern und anderen Orten in Deutschland, auch in Privathaushalten aufgeführt, oft begleitet von Musikern. Dem Buch Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts habe ich ein Zitat von Heine vorangestellt. Er kommentierte den entfesselten Kapitalismus Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich („Enrichissez-vous!“ – „Bereichert Euch“), an dessen Spitze populistisch ein „Bürgerkönig“ stand: „Die heutige Gesellschaft verteidigt sich nur aus platter Notwendigkeit, ohne Glauben an ihr Recht, ja ohne Selbstachtung.“

 

Source: http://tlaxcala-int.org/article.asp?reference=31413

Leave a Comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *