Von Jürgmeier, 24. Mai 2021, Erste Veröffentlichung in Neue Wege 6.21. Mann sein heisst, nicht Frau sein. Die alte Formel ist immer noch wirksam und schürt die Angst vor der Gleichheit. Aber die Frage ist nicht: Wie werde ich ein Mann?, sondern: Wann wird der Mensch dem Menschen ein Mensch? Briefe aus dem (vermeintlich) untergehenden Patriarchat.
Lieber Andrin
Falls du in den dreissiger oder vierziger Jahren diese Zeilen lesen solltest, wirst du dich kaum daran erinnern, dass du mich als Bub einmal gefragt, was du machen müssest, um ein Mann zu werden. Die Frage verrät, dass man nicht als Mann geboren wird oder die Natur einen, fast unmerklich, dazu macht. Als diplomierter Genderer1 hätte ich am liebsten gesagt: Mann – das gibt’s doch nicht. Höchstens diverse und einigermassen widersprüchliche Männlichkeiten. Viel wichtiger ist die Frage, wie du zum Menschen wirst. Mit aufrechtem Gang. Aber dann begann ich mich vor deinem künftigen Gelächter zu fürchten. Und zu zweifeln.
Werdet ihr in den Ländern der Gleichheit angekommen sein?
Interessiert mich die Frage nach dem Mannsein nicht, weil ich nie ein rechter Mann war? Bin ich noch auf der Höhe aktueller Diskurse? Kann ich die Welt, die Geschlechter immer wieder anders denken? Oder klammere ich mich an die Denkfiguren vergangener Jahre und vertraue, aus Eitelkeit, den längst geschriebenen Antworten2 auf wiederkehrende Fragen? Wird das mit den Männern (und den Frauen) für dich kein Thema mehr sein? Weil ihr andere, grössere Probleme haben werdet. Weil Männer – wie immer wieder an die berühmte Wand gemalt – nicht mehr gebraucht werden. Ausser den paar wenigen, die als Zuchtbullen gehalten werden. Weil jene, die nach alten Grenzen rufen und sich «Make men great again» auf die Mütze sticken (lassen), siegreich gewesen sein und euch wieder beibringen werden, was ein richtiger Mann ist.3 Oder werdet ihr in den Ländern der Gleichheit angekommen sein?
«Ein Mensch ist doch einfach ein Mensch.» Sagt Magdalena Martullo-Blocher – als Chefin der Ems-Chemie und SVP-Nationalrätin eine der mächtigsten Frauen im Land – im Katalog zur Ausstellung Geschlecht. Jetzt entdecken des Stapferhauses in Lenzburg. Sagt 2020: «Es gibt biologische Veranlagungen, sicher. Aber grundsätzlich stört mich diese ewige Unterscheidung von Mann und Frau.» Und quittiert die Frage, ob sie «nicht von vielen als ziemlich männlich angesehen» werde, mit einem barschen «Das ist schon eine sehr stereotype Frage». Ist die SVP zu den Dekonstruktivist*innen übergelaufen?
Wir sind doch alle nur Menschen. Immer wieder fällt der Satz, wenn sich Gräben auftun und Konflikte drohen – zwischen Arm & Reich, Schwarz & Weiss, Frau & Mann. Aber der Satz, der Gleichheit markiert, ist trügerisch. Ist Sehnsucht & Vision, nicht Wirklichkeit. Solange das so ist, müssen soziale, ökonomische, kulturelle, Alters- und Geschlechterdifferenzen benannt werden. Sonst verdeckt der Satz real existierende Unterschiede & Unterordnungen.
Lieber Andrin
Wir leben in widersprüchlichen & que(e)ren Zeiten. In denen Grossmütter sich, zum Beispiel, darüber ärgern, dass der Havelaar die Osterhasen immer noch blau und rosa verpackt. Die sie, weil sie nichts Faireres finden, dann doch kaufen. Du und dein Schwesterchen wissen genau – gelerntistgelernt –, wer in welche Ohren beissen darf. (Obwohl es früher gerade die anderen gewesen sein sollen.) Jahrzehnte nach Alice Schwarzers Buch Der kleine Unterschied und seine grossen Folgen4 sowie anderen Dekonstruktionen von Naturen muss dieser «kleine Unterschied» immer noch als Legitimation für grosse Geschlechterdifferenzen und soziale Unterwerfungen herhalten.
«Ich habe drei Kinder geboren. Ich bin ganz Frau.» Beantwortet Magdalena Martullo-Blocher die Frage «Waren Sie sich immer sicher, dass Sie Ihr biologisches Geschlecht auch als Mensch verkörpern?»5 Der ehemalige Präsident der SP Schweiz und Ständerat Christian Levrat stimmt mit einem «Und ich ganz Mann» in den Kanon ein. Ohne weitere Erklärung und fast schon paternalistisch schiebt er nach: «Aber ich nehme zur Kenntnis, dass es Menschen gibt, die sich in dieser Frage nicht sicher sind. Unsere Aufgabe in der Politik ist es, eine Gesellschaft aufzubauen, in der sich alle entfalten können.» Im Klartext: Auch «Nichtbinäre» – die sich nicht entscheiden können oder wollen, was sie sind – sollen, Ehefüralle, heiraten dürfen. Jetzt beginnt das Duett zu scherbeln. «Wenn wir das konsequent machen wollten, müssten wir die Unterscheidung von Mann und Frau in allen Gesetzen aufheben.» Erkennt Martullo-Blocher. Und vor einem dritten Geschlecht, beispielsweise, graut ihr: «Das gibt doch ein ungeheures Durcheinander.» Und schafft dann Klarheit: «Mensch bleibt Mensch.» Gibt es in euren Gesetzen noch Geschlechter? Und wenn ja – wie viele?
Was meinen die Vertreter*innen der beiden grössten Schweizer Parteien, wenn sie im gleichen Takt «ganz Frau» und «ganz Mann» sagen? Wann ist ein Mann «ganz Mann»? Wann nur ein halber, wann WeicheiSchlappschwanzSchwuchtel? Und warum wird immer wieder nach (neuen) männlichen Vorbildern für dich und andere Buben gerufen? Wenn es Vorbilder, Initiationsriten oder gar eine «Manngeburt»6 am Ende einer «9-monatigen initiatischen Reise» braucht, damit einer «ganz Mann» wird, dann liegt dieses Mannsein nicht in der Natur der XY-Träger, sondern muss, der aktuellen Männlichkeitsmode folgend, immer wieder erlernt & eingeübt werden.
Lieber Andrin
Männlichkeit wird immer (noch) gegen die auf die Frau projizierte Unberechenbarkeit (von EmotionLiebeSexualität), Hilflosigkeit (gegenüber gesellschaftlicher Macht sowie sozioökonomischen Verwerfungen) und Angst (vor VerlustKrankheitTod) konstituiert. Mann sein heisst, nicht Frau sein. Keine Angst und alles unter Kontrolle. Insgeheim ahnen alle – an diesem Konzept Mann kann der real existierende Mann nur scheitern. Weil männliche Grandiositätskonzepte für die wenigsten Wirklichkeit werden und selbst Sieger es nur für kurze Zeit bleiben, wird immer wieder versucht, (hegemoniale) Männlichkeit mit magischen Gebärden, Gewalt und Verleugnung zu inszenieren. Trump – der Mann, der oft & gerne «You are fired» zischte – durfte selbst kein Loser werden. Deshalb musste er das Faktum seiner Abwahl leugnen und die Erzählung vom Wahlbetrug in die Welt setzen. Beklemmenderweise wollen Millionen an die durchschaubare Mär seines eigentlich grandiosen Sieges glauben.
Wer nach neuen Männlichkeiten fragt & sucht, überwindet die Geschlechtergrenzen nicht – er zieht sie nur neu. Die Angst vor der Gleichheit, das ist die alte Angst vor dem Absturz ins Weibliche oder Homosexuelle. (Sind schwule Männer keine Männer?) Ist aber auch die Angst vor dem Verlust der Zugehörigkeit zu einer (homogenen) Gruppe. Dass Männern das Überschreiten der Geschlechtergrenze offensichtlich schwerer fällt als Frauen, hat nicht nur mit der traditionellen Konstituierung von Männlichkeit über das «Mann sein heisst, nicht Frau sein» zu tun, sondern auch damit, dass dem Macht- und Statusgewinn der Frauen, die sich Richtung männliche, öffentliche Welt bewegen, ein Macht- und Statusverlust der Männer gegenübersteht, die sich ins weibliche, private Haus begeben. Solange nicht jede gesellschaftliche Tätigkeit (auch ökonomisch) dieselbe Wertschätzung erfährt, Gleichheit eben, erscheint das Äquivalent zur Befreiung der Frau als Abstieg des Mannes.
Lieber Andrin
Werdet ihr, endlich, alle zu Menschen geworden sein? Bedeutungslos, was ein Mann und was eine Frau, aber auch was ein Mensch ist? Die Utopie des Menschen dürfte ja nicht als neues Korsett entworfen, sondern müsste als begrenzte & unzulängliche Vielfalt hingenommen werden. Alle gleich und fremd zugleich. Einzigartige Individuen, denen keines der bekannten Stereotype – Schweizer, Kurdin, Homosexueller, Heterosexuelle, Mann, Frau – übergestülpt werden kann. Es ist ja gerade nicht die Überwindung der Geschlechterdifferenz, die Unterschiede einebnet, sondern die gesellschaftlich hervorgebrachte Dualität von Mann & Frau glättet mit stereotypen Zuordnungen die grossen Unterschiede zwischen den Männern (und den Frauen) aus. An diese Vertrautheit des eigenen Kollektivs & Geschlechts klammern wir uns wie der Vogel, der den geöffneten Käfig nicht verlässt, weil ihm die vergitterten fünfzig Zentimeter vertrauter sind als der weite Himmel. Ein Korsett beengt nicht nur, es gibt auch Halt.
Werdet ihr, endlich, alle zu Menschen geworden sein?
Hast du den Käfig verlassen? Geht ihr schon auf ungesicherten Pfaden, oder lebt ihr noch mit unseren Geländern? Brauchen die «Queeren» noch die Biologie als Legitimation ihres Andersseins? Wie der Schwinger Curdin Orlik 2020 im Magazin. Sein «Ich bin schwul. Ich bin so. Ich kann nichts dafür» – das ist meine Natur – verrät: Er lebt in einer Kultur, in der es noch immer verwerflich wäre, wenn einer ohne Not schwul würde. Wenn er die Wahl hätte und es trotzdem täte. Wirklich frei aber ist nur die Gesellschaft, in der eine oder einer Homosexualität, Zölibat, Polyamorie, Heterosexualität oder das (soziale) Geschlecht frei wählen kann. Seid ihr so frei, oder hofft ihr, dass eure Kinder und Kindeskinder noch wissen, was ein Mann ist?
Fragt (d)ein Grossvater 2021 in (d)eine Zukunft
- Nachdiplomstudium MAS für Cultural und Gender Studies 2004–2006.
- Einzelne Überlegungen beziehungsweise Formulierungen sind übernommen aus: Jürgmeier_Helen Hürlimann: «Tatort», Fussball und andere Gendereien – Materialien zur Einübung des Genderblicks. Luzern/Zürich 2008. Jürgmeier: Die Angst vor der Gleichheit. In: Ein Haus verändert das Leben. Stiftung Frauenhaus Aargau-Solothurn 2013.
- Björn Höcke (AfD), Erfurter Rede vom 18.1.2015: «Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken. Denn nur wenn wir unsere Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft. Und nur, wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft!» (Zit. aus: Susanne Kaiser: Politische Männlichkeit.Berlin 2020.)
- «Männlichkeit und Weiblichkeit sind nicht Natur, sondern Kultur … Und die Gebärfähigkeit ist auch der einzige Unterschied, der zwischen Mann und Frau bleibt. Alles andere ist künstlich aufgesetzt, ist eine Frage der geformten seelischen Identität.»
- Gespräch mit Balthasar Glättli, Christian Levrat, Gerhard Pfister im Buch Jetzt entdeckenzur gleichnamigen Ausstellung des Stapferhauses in Lenzburg, 2020–2021.
- männerwelten.ch
- _ Jürgmeier,
*1951, war, «gründlich unausgebildet», jahrzehntelang in publizistischen, soziokulturellen und Bildungszusammenhängen tätig. Seit der «Verrentung» versucht er, den frühen Selbstentwurf des Schriftstellers noch ganz einzulösen.