Von Milena Rampoldi, ProMosaik. Anbei mein Interview mit Harald Haarmann. Thema sein neues Werk mit dem Titel Platons Musen, das voll und ganz auf das Thema der Weiblichkeit im Denken Platons fokussiert und damit wiederum beweist, wie aktuell Themen rund um die Philosophie des Altertums, vor allem auch mit Bezugnahme auf Alteuropa und seine Kultur der Gleichberechtigung und des Zusammenlebens auf Augenhöhe sein können.
Was bedeutet für Sie die These, dass Platon die Philosophie nicht als Selbstzweck sah?
Für Platon war die Beschäftigung mit philosophischen Fragen kein Selbstzweck, im Sinn von “l’art pour l’art” (Kunst um der Kunst willen), sondern für ihn hat die Philosophie die Funktion einer Anleitung für die Lebensgestaltung, und das Tun und Handeln eines Menschen hat sich laut Platon am Gemeinwohl zu orientieren. Das heißt, es geht darum, dass die Philosophie ein Rahmenwerk für ein sinnvolles und verantwortliches Leben bereit stellt. Die Verantwortlichkeit drückt sich in Form von Rechtschaffenheit aus, und dies ist die Maxime für das Verhalten und Handeln der Menschen in der Gemeinschaft, also im Kreis der Familie, in der Dorfgemeinschaft, als Stadtbewohner und in der Rolle als Staatsbürger. Platon erkennt durchaus die Bedeutung des Individuums mit seinen Aspirationen und Intentionen als Einzelperson, als Maxime für das Handeln des Einzelnen gilt aber nach Platon immer, dass dies im Einklang mit den Interessen des Gemeinwohls steht.
Wenn Platon bei seinen Betrachtungen den Blick auf die Interessen des Gemeinwohls richtet, ist dies eine lebensnahe Orientierung, von der wir alle, eben auch wir Menschen in der digitalen Moderne, profitieren können. Das macht Platons Ideenwelt zeitlos bedeutend und deshalb so attraktiv. Platon gelingt es aufzuzeigen, was erforderlich ist, um dem Leben einen Sinn zu geben. Als der Betrieb in der von Platon 387 v. Chr. gegründeten Akademie aufgenommen wurde, hatten dort Frauen ebenso wie Männern Zugang, und den Bürgern von Athen war die Gelegenheit gegeben, an bestimmten Tagen – wenn die Akademie “Haus der offenen Tür” war – die Debatten zu verfolgen.
Für Platon kommt dem Blick auf das organische Ganze menschlicher Existenz in ihrer kommunalen und allgemein-gesellschaftlichen Einbindung ein Stellenwert von höchster Priorität zu. Platons philosophisches Gesamtwerk ist allumfassend und setzt sich mit praktisch allen großen Fragen auseinander, die nach ihm in der Philosophiegeschichte erörtert worden sind. Aus gutem Grund hat der Platon-Kenner Harald Seubert für eine seiner Monographien den treffenden Titel Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie (2017) gewählt.
Warum diese Analyse der weiblichen Intellektualität in Verbindung mit Platon? Welchen Beitrag leisten Sie damit zur Platonforschung?
Diese Analyse der weiblichen Intellektualität ist die Antwort auf haltlose und klischeehafte Behauptungen, wonach Platon angeblich zum Kreis der “patriarchalischen Schriftsteller” gehört. “Forscher”, die solche Behauptungen aufstellen, entlarven sich damit selbst, denn sie haben ganz offensichtlich die Werke Platons nicht gelesen. Wenn von Aristoteles gesagt wird, er sei ein patriarchalischer Schriftsteller, dann trifft das zu, aber dessen Einstellung gegenüber Frauen unterscheidet sich von der Einstellung seines Mentors Platon wie die Nacht vom Tag. Platon betrachtet Frauen und Männer als gleichwertig im Hinblick auf ihre Fähigkeiten, und das betrifft intellektuelle Leistungen ebenso wie das Organisationstalent zur Haushaltsführung und die Qualifikation für Staatsämter.
Ich bin der Thematik über die Einstellung zu Frauen in der Ideenwelt Platons auf zwei unterschiedlichen Schienen nachgegangen. Da ist zunächst die Standortbestimmung dieses Philosophen in Sachen Gleichberechtigung – also “was denkt Platon über Frauen?” -, und wie das in seinen Dialogen zum Ausdruck kommt (H. Haarmann, Plato on women – Revolutionary ideas for gender equality in an ideal society, Amherst, NY, 2016). Eng damit verknüpft, dabei aber unterschiedlich ausgerichtet, ist die Einflussnahme von Frauen auf das Denken und Wirken Platons, und dies ist das Hauptthema der jüngsten Studie (H. Haarmann, Platons Musen – Philosophie im Licht weiblicher Intellektualität, Hildesheim, 2020). Wenn man versteht, dass Platon ein Vertreter der Gleichberechtigung der Frauen war, wird leicht verständlich, wie es sein kann, dass Frauen mit hohem Bildungsniveau die Denkweisen dieses Philosophen beeinflusst haben.
Es ist keine Übertreibung, wenn als Fazit dieser jüngsten Studie (mit Rückendeckung durch die frühere Analyse) herauskommt: Platons Gesamtwerk wäre ohne die Einwirkung und den Beitrag intellektueller Frauen Stückwerk geblieben und hätte nicht die Zielsetzung einer Gesamtschau menschlicher Existenz im Sinn eines organischen Ganzen erreicht. Erst wenn diese Zusammenhänge ausgeleuchtet worden sind, ist eine Gesamtwertung von Platons Leistung möglich.
Was bedeutet für Sie weibliche Intellektualität und welche Stärken hat sie?
Im Licht der Gleichberechtigung der Geschlechter ist die Unterscheidung “weiblicher” Intellektualität von “männlicher” Intellektualität unerheblich. Vielmehr geht es um die Domänen und die Ausdrucksformen, wie sich Intellektualität manifestiert. Allerdings ist die Hervorhebung weiblicher Intellektualität – mit Signalgebung eben als “weiblich” – in einer Diskussion über die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Frau von Belang.
Intellektualität bezieht sich auf die breit ausgefächerte Palette intellektueller Betätigungsfelder, von der Wissensbildung und Wissensanwendung für organisatorische Aktionsbereiche über die vielfältigen Führungsaufgaben im öffentlichen Leben bis hin zum Erkenntnisgewinn im wissenschaftlichen Bereich und zum kreativen Schaffen im Kunstbetrieb. Die Gleichrangigkeit von Vertretern beiderlei Geschlechts beinhaltet das Postulat einer Kooperationsbereitschaft von Frauen und Männern und ihr Zusammenwirken.
Wenn es um Erkenntnisgewinn in Bereichen wie Philosophie oder Kulturgeschichte geht, sehe ich bestimmte Stärken der weiblichen Intellektualität, also Vorteile, die eher von Frauen eingebracht werden. Sei es verfeinerter Spürsinn und Intuition. Wenn diese mobilisiert werden, ermöglicht dies eine ganzheitliche Perspektive, die der männlichen Intellektualität zwar nicht versperrt ist, die aber von Männern eher nur mit mehr intellektuellem Aufwand zu erreichen ist.
Ein Paradebeispiel für weibliche Intellektualität auf der hohen Ebene einer ganzheitlichen Perspektive bietet die philosophische Leistung von Platons Mutter, der Philosophin Periktione. Der Vorteil einer ganzheitlichen Perspektive wird deutlich in ihrem Traktat Über die Harmonie der Frau(en) (s. Appendix II in H. Haarmanns Platons Musen, S. 191 ff.). Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man den Eindruck bekommen, dass Periktiones Botschaft auf Unterwürfigkeit oder auf Anpassung der Frauen abzielt und einer Kapitulation vor dem patriarchalischen Herrschaftsanspruch chauvinistischer Männer gleichkommt. Keineswegs, Periktiones Botschaft ist viel feinsinniger. Es geht bei der “Harmonie” um eine Harmonisierung der Geschlechterrollen für die Zwecke des Zusammenlebens in der Familie, und dies unter Berücksichtigung der realen Gegebenheiten, die in der griechischen Gesellschaft der Antike fest etabliert waren und nicht zu umgehen waren. Periktiones Harmoniebotschaft ist also der Maxime des Gemeinwohls im Sinn einer Balance im Familienverband verpflichtet. Die Botschaft ist Ausdruck von Einsicht und Verständnis in die realen Lebensbedingungen, wobei von der Selbständigkeit und Handlungsfähigkeit der Frau keine Abstriche gemacht werden. Die kluge, verständnisvolle Frau passt sich diesen Gegebenheiten an. Sie ist im Vorteil gegenüber den Männern, denn sie versteht, warum sie so handelt wie sie handelt, während die Männer eher unreflektiert den tradierten Verhaltensmustern folgen.
Die Alternative zu Periktiones Harmoniebestrebungen wäre ein radikales Aufbegehren gewesen, mit einer Mentalität wie bei den Emanzen, die während der Französischen Revolution von 1789 auf die Barrikaden gestiegen sind, zu den Waffen gegriffen und mit den Männern die Bastille erstürmt haben. Damals ist das Bild der kämpferischen Marianne entstanden, die zum französischen Freiheitsidol erkoren wurde. Doch Marianne und die anderen Freiheitskämpferinnen konnten die Gleichstellung der Frauen nicht erreichen, denn in der Nationalversammlung hatten die Männer das Sagen. Die Frauen waren zwar durch einige weibliche Mitglieder in der Versammlung vertreten, ihre Interessen als Staatsbürgerinnen blieben aber unbeachtet.
Eine der Revolutionärinnen allerdings hatte den Mut, gegen die Dominanz der Männer aufzubegehren. Dies war Olympe de Gouges, die im Jahre 1791 das Pendant der Rechte des Bürgers für die Bürgerin einforderte, mit ihrer Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne (“Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin”); (Joan W. Scott, Only paradoxes to offer. French feminists and the rights of men, Cambridge, 1996: 20 ff.). Das war zuviel für die Männer in der Nationalversammlung. Sie spannen eine Intrige gegen Olympe und sie wurde als “Verräterin an der Sache der Revolution” verurteilt. Ihr Leben endete 1793 unter der Guillotine. Die Gleichstellung der Frauen Frankreichs als Staatsbürgerinnen wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht.
Periktione entwickelt mit ihrem Traktat über Harmonie das Modell eines Freiraums für die Frauen in der zeitgenössischen Gesellschaft der griechischen Antike, die von Männern dominiert war. Ihr Sohn Platon geht einen Schritt weiter: gestützt auf das Fundament der Harmonielehre seiner Mutter zeigt er die Konturen für das Modell einer Gleichstellung der Frauen in einer idealen Gesellschaft auf.
Wie viel Alteuropa steckt wirklich in Platon und wie kann man diese Spuren aufdecken?
Die Erinnerung an das Kulturerbe Alteuropas mit seiner egalitären Gesellschaftsordnung und der Prominenz von Frauen war in vielerlei Kontexten lebendig. Die oberste Position der Priesterschaft im Kult der Göttin Athene mit ihren vorgriechischen Ursprüngen war einer Frau vorbehalten. Die oberste Position der Priesterschaft an den berühmten Orakelstätten – Delphi und Dodona – wurde jeweils von einer Frau bekleidet. An der Pilgerstätte von Delphi war dies die Pythia, die Orakelpriesterin.
Den Griechen war bekannt, dass es in Olympia früher einmal einen Frauenrat gegeben hatte. Dessen wichtige Aufgabe war es, Streitigkeiten zwischen miteinander rivalisierenden Städten zu schlichten. In diesen Rat wurden nur solche Frauen aufgenommen, die bei der Bevölkerung höchste Autorität genossen. Die Aufgaben des Frauenrats standen im Rahmen der Verehrung der Göttin Hera, der früheren Schirmherrin der heiligen Stätte, bevor diese Zeus zugesprochen wurde.
Die Frauen in diesem Gremium wie auch in der Schlüsselposition einer Oberpriesterin waren hochgebildet und kompetent, ihrerseits Männern Lehren zu erteilen. Dies ist von Themistokleia bekannt, der Orakelpriesterin von Delphi, der sich Pythagoras für seine Weiterbildung anvertraute. Diese Frauen waren sich nicht nur der Bedeutung ihres Amtes bewusst, sie waren auch vertraut mit den Leistungen von Frauen in der Kooperationsgesellschaft der vorgriechischen Ära. Über ihre eigene Erziehung wurden sie mit dem traditionsorientierten Gewohnheitsrecht vertraut, das seit undenklichen Zeiten von einer Generation zu nächsten transferiert worden war. Das Gewohnheitsrecht (griech. hosia) stand unter dem Patronat einer vorgriechischen Göttin, von Themis.
Zum Gewohnheitsrecht mit seinen vorgriechischen Elementen gab es das Pendant des öffentlichen Rechts, und das war griechisch-patriarchalisch ausgelegt. Obwohl Frauen das Bürgerrecht besaßen, blieb ihnen das Wahlrecht und das Recht auf Ämter in der staatlichen Organisation verwehrt. Sie waren also Stummbürgerinnen, keine Stimmbürgerinnen. Doch auch in dem Strang der patriarchalischen Rechtstradition gab es eine Nische mit wichtiger nodaler Funktion, und das war das Mutterrecht, ein Nachklang der Prominenz der Frauen in der Gesellschaft Alteuropas.
Ein Anrecht auf Staatsbürgerschaft im Athener Staat hatten nur die Nachkommen gebürtiger Athenerinnen. Es war unerheblich, ob eine Nichtathenerin reich und einflussreich war oder ob der Mann, selbst wenn er Nichtgrieche war, Einfluss auf das politische und wirtschaftliche Leben in Athen nahm. Es gab den Fall eines reichen Athener Kaufmanns, der sich eine thrakische Prinzessin zur Frau nahm. Deren Kinder bekamen aber nicht wegen des Standes der Mutter oder wegen des Einflusses des Vaters das Athener Bürgerrecht. Folge dieser Priorität, die dem Mutterrecht eingeräumt wurde, war, dass Ausländer, die die Vorteile des Athener Stadtlebens anstrebten, sich bemühten, in angestammte griechische Familien einzuheiraten, um über die Mutter ihren Nachkommen die Athener Staatsbürgerschaft zu sichern.
Diotima, die Seherin von Mantinea, war ebenfalls gebildet in einer Weise, dass sie es mit den Philosophen ihrer Zeit aufnehmen konnte. Mit Bewunderung stellt Platon Diotima in seinem Dialog Symposion seinem Protagonisten gegenüber. Diotima treibt Sokrates mit fundamentalen Fragen in die Enge, so dass Sokrates am Ende zugeben muss, dass er eigentlich recht wenig weiß. Übrigens, Sokrates hat nie gesagt “Ich weiß, dass ich nichts weiß”. Das ist eine Verdrehung in der lateinischen Adaption des griechischen Originaltextes im Symposion durch den römischen Orator Cicero. In Wirklichkeit meinte Sokrates, dass das, was er mit Sicherheit wüsste, wenig ist im Vergleich zu all dem, was man erst nachweisen muss.
Der Eindruck, den Diotima bei Sokrates hinterlässt, kommt einem Erdrutsch gleich. Sokrates entschließt sich, die philosophische Diskussion auf die Dialogform, also auf das Frage-und-Antwort-Spiel, umzustellen. Dies wird von Platon in seinem Dialog so dargestellt, als ob er selbst diese Innovation von seinem Mentor angenommen hätte. Tatsache ist, dass die Neuorientierung an der Dialogform über Platons Werk in der Philosophiegeschichte den Durchbruch gegenüber der analytischen Argumentation der vorsokratischen Philosophie bewirkt.
Nachklänge des weit verzweigten Handels in den Gemeinschaften Alteuropas findet man auch im Handelswesen der griechischen Antike. Beispielsweise lag der Zwischenhandel in der Hafenstadt Piräus, wo die Getreidelieferungen von den Kolonien am Schwarzen Meer angelandet wurden, in der Verantwortung von Frauen. Diese Händlerinnen, die das Getreide über ihren Zwischenhandel weiter an die Kaufleute von Athen vergaben, wurden kapelis genannt, und dies ist ein Lehnwort aus der Sprache der Alteuropäer. Die Frauen von Athen schlossen sich in Genossenschaften zusammen. Zu Hause webten sie Textilien, die sie dann auf den öffentlichen Märkten verkauften. Es wird immer wieder behauptet, die griechischen Frauen der Antike wären ausschließlich ans häusliche Milieu gebunden gewesen und hätten keine Rolle im öffentlichen Leben gespielt. Es trifft zu, dass ihnen eine Betätigung im politischen Leben verwehrt blieb, aber das Bild vom “Heimchen am Herd” ist ein Klischee, das es zu entsorgen gilt.
Als Kleisthenes im Jahre 507 v. Chr. eine demokratische Gesellschaftsordnung für den Athener Staat einführte, war dies keine absolute Neuorientierung in der Weltgeschichte, obwohl das in allen konventionellen Handbüchern über die griechische Antike zu lesen steht. Vielmehr konnte Kleisthenes auf das Modell der kommunalen Verwaltung in den Dorfgemeinschaften zurückgreifen. Das soziale Netzwerk in den Kommunen war nicht hierarchisch strukturiert. Entscheidungen wurden in Dorfräten getroffen, und deren Mitglieder waren gewählte Vertreter. In den Dorfgemeinschaften hatte sich das egalitäre Prinzip kommunaler Administration aus alteuropäischer Zeit erhalten.
Wollte man sagen, dass Kleisthenes dieses Prinzip adaptiert und auf die Ebene staatlicher Organisation übertragen hätte, wäre das zu kurz gegriffen. Denn tatsächlich blieb die Anwendung des egalitären Prinzips defizitär, weil die Frauen von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen blieben. Dass das egalitäre Prinzip – als Nachhall des Kulturerbes Alteuropas – bei der Wahl von Mitgliedern in den Ratsgremien Vertreter beiderlei Geschlechts betraf, wird verdeutlicht durch das dokumentierte Beispiel des Frauenrats von Olympia. Allerdings bleibt der Anteil der Frauen als Mitglieder in den Bürgerräten der lokalen Dorfgemeinschaften, auf die sich Kleisthenes stützte, unbestimmt, denn darüber sind keine Angaben in den antiken Quellen auszumachen.
In einigen Gegenden Griechenlands war auch das Prinzip kommunalen Landbesitzes erhalten geblieben, so in der Gemeinde von Thorikos südöstlich von Athen. Thorikos ist eine Gründung aus alteuropäischer Zeit. Dort gab es reiche Silberminen, die zu allen Zeiten im kommunalen Besitz verblieben und nie in Privatbesitz übergingen. Der Gemeinderat vergab Lizenzen für den Abbau von Silber an auswärtige Unternehmer, und die hatten dann – zusätzlich zu ihrer Lizenz – Anteile ihres Gewinns an die Gemeinde abzuführen. Die Gemeinde von Thorikos wurde so wohlhabend, dass sich die Bewohner den Bau eines eigenen Theaters leisten konnten, und das konkurrierte mit dem Dionysos-Theater in Athen.
Die genannten Beispiele sind lediglich einige ausgewählte Kontexte, wo sich in der zeitgenössischen Gesellschaft Platons die Nachklänge der Zivilisation Alteuropas bemerkbar machen. Platon war ein wacher Beobachter seiner Umwelt, und die Erziehung durch seine Mutter, die nach dem frühen Tod von Platons Vater die Rolle als dessen Alleinerzieherin wahrnahm, sensibilisierte ihren Sohn für die vorgriechischen Stränge.
Wie wichtig sind solche Studien für die Genderforschung heute?
Die feministische Forschung hat bislang den intellektuellen Frauen im Umkreis Platons lediglich Nischenplätze eingeräumt, und eine kritische Würdigung der Gesamtwirkung der Inspirationen auf Platons Ideenwelt, die von Frauen ausgingen, ließ lange auf sich warten. Ich hoffe, dass es mir mit dieser neuen Studie (Platons Musen) gelungen ist, Platons Blick auf das organische Ganze gerecht zu werden und die Wirkung weiblicher Inspiration eben darauf auszuleuchten. Für die moderne Genderforschung eröffnet sich damit ein weiter Horizont.
In Platons Ideenwelt gehen wichtige Konzepte des Kulturerbes aus Alteuropa (die Gleichstellung der Frau in einer auf Kooperation ausgerichteten egalitären Gesellschaftsform) eine Fusion ein mit den Gegebenheiten der zeitgenössischen (männerorientierten) griechischen Gesellschaft. Platons philosophischem Werk kommt die Funktion eines Stellwerks zu, mit Weichenstellungen für eine allgemeine Wertschätzung fundamentaler Werte des Gemeinwohls aus der alteuropäischen Ära, die idealisiert und für die Zukunft gesichert werden. Alteuropäische Traditionen haben auf Platon eingewirkt, und er selbst hat mit seinem Gesamtwerk nicht nur den Kanon der europäischen Geistesgeschichte entscheidend geprägt, sondern er hat darüber hinaus allgemeine Vorgaben für die gesellschaftliche Entwicklung der westlichen Zivilisation gemacht.
Fazit: man muss sich nur bemühen genau hinzuschauen, dann erschließt sich dem modernen Betrachter die zeitlose Bedeutung von Platons Philosophie.
Welchen Bezug sehen Sie zwischen Frau, Kunst und Frieden?
In meiner Einschätzung besitzen Frauen ein besonderes Gespür für Kooperationsmöglichkeiten, untereinander wie auch mit V
ertretern des anderen Geschlechts. Auch Männer sind prinzipiell kooperationsfähig, obwohl die Bereitschaft bei vielen eher verdeckt bleibt und nicht unbedingt latent abrufbar ist. Dies mag ursächlich mit einem Phänomen zusammenhängen, das ein typischer Marker der westlichen Zivilisation ist, das Streben nach Ruhm und öffentlicher Anerkennung. Dieses Streben ist im Kern egozentrisch und steht einer auf Kooperation ausgerichteten Bereitschaft entgegen, blockiert sie geradezu. Die Geschichte des Strebens nach Ruhm ist eng mit der Geschichte des Heldenkults verwoben, der durch vielfältige konkurrenzorientierte Aspekte, durch eine Bereitschaft zu Konfrontation und Rivalität charakterisiert ist.
Die Ursprünge des Heldenkults sind in der Kriegerkaste der prähistorischen Nomadengesellschaft Eurasiens mit ihrer Sozialhierarchie zu suchen. Der Heldenkult hat sich mit den Migrationen der Indoeuropäer über Europa ausgebreitet, die großen Zivilisationen der Antike, die griechische und die römische, geprägt und durch die Einflussnahme europäischer Kolonialmächte weltweit verbreitet. Wir leben mit dem euro-amerikanischen Kanon des historisch tradierten Heldenkults. Welche Konsequenzen der Heldenkult für die Ausbildung von Mentalitätsmustern gehabt hat und welche Einschränkungen sich dadurch für die Friedensbildung ergeben, dies wird derzeit in einem Kooperationsprojekt näher erforscht.
Kooperationsbereitschaft ist der Schlüssel für Ausgleich und friedliches Zusammenleben, sei es in der Familie, in der Arbeitswelt, in der Politik, in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit wie auch in den Kontakten zwischen Einzelstaaten. Wenn Frauen eine natürliche Bereitschaft zur Kooperation besitzen und diese Bereitschaft ihrem Verhalten und Handeln eher zugrunde legen, dann besitzen sie Vorteile gegenüber Männern, die sich eher konfliktbereit dem Streben nach Ruhm hingeben. Vielleicht sind Frauen deshalb auch in besonderem Maße befähigt als Schlichter und Friedensvermittler.
In meiner Familie wird mir die besondere Befähigung einer Schlichterin vorgelebt. Meine Frau, Pirkko-Liisa Haarmann, pensionierte ehemalige Richterin am Obersten Finnischen Gerichtshof, hat während ihrer Amtsperiode zusätzlich vielerlei Schiedsgerichtsverfahren in der Verantwortung als vorsitzende Richterin durchgeführt. Dabei handelte es sich nicht allein um Streitfälle zwischen Kontrahenten in Finnland, sondern darunter waren auch Streitsachen, in die internationale Konsortien und Interessengruppen verstrickt waren. Wohlbegründet sind Pirkko-Liisa Haarmann zwei verschiedene Verdienstorden des finnischen Staats verliehen worden.
Wenn Frauen ihr Gespür für Kooperation und Friedensvermittlung in ihr kreatives Schaffen einbringen, dann entstehen Werke wie die von LaBGC, der in Spanien lebenden Künstlerin und Publizistin, und werden zu Friedensbotschaften in Zusammenarbeit, wie zum Beispiel LaBGC & Harald Haarmann Miteinander Neu-Denken. Europa im Gestern | Alteuropa im Heute, Berlin: Lit Verlag 2019.
Hier finden Sie das Interview zum Werk Miteinander Neu-Denken.
https://promosaik.blogspot.com/2020/04/miteinander-neu-denken-ein-interview.html