Das achtsame Schauen und der symbiotische Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur, ein Interview mit Harald Haarmann

Von Milena Rampoldi, ProMosaik. 9. Februar 2021. Anbei mein Interview mit Harald Harmann zu seiner neuen, spannenden Veröffentlichung Die seltsamen Sprachen der Welt, Von Klicklauten und hundert Arten, ich zu sagen. Wir haben uns über den Begriff des Seltsamen, das Anderssein, die Aborigines und die enge Beziehung zwischen Sprache und Kultur unterhalten.

 

Was verstehen Sie unter „seltsam“, wenn es um Sprachen geht?

Wenn wir den Ausdruck “seltsam” hören, dann verbinden sich für uns damit spontane Wertungen, und die können von einem harmlosen “fremdartig, nicht vertraut” bis zu einem “komisch” oder sogar “primitiv” rangieren. Wenn wir mit fremdartigen Sprachstrukturen konfrontiert werden, also mit solchen Phänomenen in Lautung, Grammatik, Wortschatz, die fundamental von dem abweichen, woran wir bei unserer Muttersprache gewöhnt sind, dann fehlen uns häufig Vergleichsmöglichkeiten und wir halten fremdartige Sprachen womöglich leichtfertig für weniger geeignet für die soziale Interaktion als unsere eigene, die uns vertraut ist.

Dieses Buch ist als Anregung gedacht, uns auf den Eigenwert des Andersseins zu besinnen und unsere Bereitschaft zu fördern, damit umzugehen.

 

Wie können wir durch den Kontakt zu anderen Sprachsystemen den Horizont unserer Denkfähigkeit erweitern?

Alexander von Humboldt hat in der Einleitung zu seinem monumentalen Werk “Kosmos” (in vier Bänden, 1845 bis 1862, mit einem fünften Band, der posthum erschien) gesagt “Am gefährlichsten ist die Weltanschauung derer, die sich die Welt nicht angeschaut haben”. Diese Weisheit habe ich mir zu eigen gemacht und mich seit Jahrzehnten bemüht, mir die Welt anzuschauen, u.zw. mit Achtsamkeit im Sinn von Goethes “achtsamem Schauen”.

Die Kulturen der Welt kennenzulernen, die Menschen, die sie aufgebaut haben und die Sprachen, mit denen sie sich in ihrer Umwelt orientieren, ist ein faszinierendes Erlebnis. Dabei geht es nicht allein um persönliches Erleben vor Ort, sondern auch um die Aufarbeitung persönlicher Eindrücke im Rahmen der Forschungsliteratur. In dem Buch über die seltsamen Sprachen habe ich außergewöhnliche Erlebnisse ausgewählt, die besonders geeignet sind, den Kontrastreichtum in der Welt der Sprachen aufzuzeigen.

Das achtsame Schauen bringt uns dazu, nicht nur unseren Erfahrungsschatz zu bereichern, sondern auch unseren Bewusstseinshorizont auszuweiten. Mein Aufenthalt bei den Saamen in Lappland hat mich unmittelbar verstehen lassen, warum für diese Menschen Schneeverhältnisse so wichtig sind und warum es deshalb im Saamischen so viele verschiedene Ausdrücke für Schneequalitäten gibt. Für die Saamen und ihre traditionelle Wirtschaftsform der Rentierzucht sind Unterscheidungen der Schneequalitäten unverzichtbar, um im Winter geeignete Weideplätze für ihre Herden zu erkunden.

Wenn man sich andererseits mit den Inuit in Grönland über deren Umwelt unterhält, wird schnell klar, dass Schnee nicht so wichtig ist, obwohl sie davon ständig umgeben sind. Ganz anders aber verhält es sich mit der Kenntnis der Eisqualitäten, die für die traditionelle Wirtschaftsform der Robbenjagd unverzichtbar war. Solche Eindrücke kann man nicht gewinnen, wenn man Sprachwissenschaft nur am Schreibtisch oder in der Bibliothek betreibt.

 

Wie hängen Hierarchie und Schriftsysteme zusammen und welche politischen Auswirkungen kann das auf eine Gesellschaft haben?

Wenn Sprache ein wichtiges Werkzeug ist, mit dem sich Menschen ihre Kultur aufbauen, dann dienen Schriftsysteme natürlich ebenfalls diesem Zweck. Und wenn die Gesellschaft hierarchisch strukturiert ist, spiegelt sich das entsprechend im Sprach- und Schriftgebrauch. Die Verhältnisse im Alten Ägypten vermitteln einen exemplarischen Eindruck, wie soziale Hierarchie durch Sprache im wahrsten Sinn des Wortes “festgeschrieben” wird. Die rigorose Trennung des Schriftgebrauchs in zeremoniale Hieroglyphenschrift, in das Hieratische (die Schriftvariante der Priester) und in das Demotische (die Schrift der staatlichen Administration und des Alltagslebens) bringt die Gliederung der ägyptischen Gesellschaft “augenfällig” zum Ausdruck.

Es war einem Ägypter, selbst wenn er schriftkundig war, nicht erlaubt, Hieroglyphen oder die priesterliche Schrift zu verwenden, außer er war Mitglied in der königlichen Familie, hatte ein Amt im Hofstaat oder gehörte zum Tempelpersonal. Die Schrift wurde als effektives Instrument eingesetzt, die strenge hierarchische Ordnung in der Gesellschaft zu demonstrieren und aufrecht zu erhalten.

 

Erzählen Sie uns kurz etwas über die Traumzeit und ihr Vokabular, das uns die Welt der Aborigines nahebringt?

Die Aborigine in Australien haben eine ganz besondere Beziehung zu ihrer Vergangenheit. Ihre regionalen Kulturen sind schriftlos, was bedeutet, dass es keine Aufzeichnungen aus früherer Zeit gibt. Was Begebenheiten in der Vergangenheit betrifft, so werden Erinnerungen daran ausschließlich im kulturellen Gedächtnis der Menschen tradiert. Die Traumzeit (tjukurrpa) hat einen ähnlichen Stellenwert wie die Mythen für die Griechen der Antike. Das was in der Zeit weit zurück lag – in der vorliterarischen Epoche – wurde in Mythen überliefert, und deren Inhalte variierten stark . Ähnlich steht es mit den Geschichten der Aborigine über die Traumzeit, über die Anfänge, als die Natur mit allem darin erschaffen wurde, und über all die Dinge in der Erlebniswelt der Menschen. In dieser Welt verwischen sich die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits.

Die Geschichten der Traumzeit halten wichtige Lehren für uns Menschen in der westlichen Welt bereit. Während bei uns die Mythen verdrängt wurden, leben sie bei den Aborigine wie eh und je lebendig fort. Und in einigen Mythen spiegeln sich außergewöhnliche Realitäten.

So gibt es die mythische Figur des Feuervogels. Was von Westlern lange Zeit als bloßes Fantasiegebilde verstanden wurde, ist in der Tat eine Erinnerung an ganz alte Zustände. Es gibt den Feuervogel. Dies ist der australische Bussard, der mit den Menschen in einem besonderen Verhältnis (Transhumanz) steht. Wenn Aborigine Buschfeuer entfachen, um das Wachstum von Wildgräsern durch die Düngung mit Asche zu fördern, dann gesellt sich der Bussard zu ihnen, klaubt einen brennenden Ast vom Boden, trägt ihn weiter weg und entfacht an anderer Stelle ein weiteres Feuer, mit der Intention, Kleintiere aufzuscheuchen, die der Raubvogel dann leichter jagen kann.

Geradezu sensationell ist die Bestätigung des Inhalts einer Traumzeitgeschichte durch Wissenschaftler. Geologische Forschungen haben ergeben, dass es im Südwesten Australiens vor langer Zeit eine Serie von Vulkanausbrüchen gegeben hat, und dieses Ereignis spiegelt sich in einem alten Mythos, den sich die dort lebenden Aborigine bis heute erzählen. Es geht in dem Mythos um die Taten eines Helden der Traumzeit, der dort herumtobte, Feuer entfachte und eine Landschaft mit drei Vulkankegeln ausformte. Das Ereignis, das sich in der mythischen Erinnerung wie ein Fossil erhalten hat, wird auf die Zeit vor ca. 37.000 Jahren datiert.

 

Wie stark hängen Sprachen und Kulturen zusammen?

Der Zusammenhang von Sprache und Kultur ist gleichsam symbiotisch. Das heißt, das eine kann nicht ohne das andere sein. Es gibt keine Sprache, die nicht der Spiegel einer bestimmten Kultur ist. Andererseits gibt es keine Kultur ohne Beteiligung von Sprache. Die Welt der Taubstummen ist eingebunden in die Welt der mit Sprache Handelnden, existiert also nicht separat davon.

Im Licht der Evolutionsgeschichte des Menschen stellt sich die Entwicklung von Sprache und Kultur folgendermaßen dar: die Notwendigkeit, die eigene Existenz zu meistern, indem man  möglichst effektiv mit der Umwelt interagierte, führte dazu, dass sich die Ausdrucksmöglichkeiten von Sprache (in Form von grammatischen Strukturen und einer Erweiterung des Wortschatzes) dynamisch entfalteten und dadurch der Aufbau immer komplexerer Kulturstrukturen (technologische Entwicklung, soziale Gruppenbildung und gesellschaftlicher Überbau, religiöse Traditionen Ausdrucksformen der Kunst, usw.) möglich wurde.

 

Wie sehr unterstützt Mehrsprachigkeit Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Kulturen?

Das alltägliche Erleben von Mehrsprachigkeit, also der Verwendung von zwei oder mehreren Sprachen in derselben Umgebung, fördert eine kontrastreiche Perspektive, wie sie aus der Sicht von Einsprachigen nicht möglich ist. Der Kontrast schärft unsere Sinne für die Gleichwertigkeit verschiedenartiger sprachlich-struktureller Ausdrucksmöglichkeiten, und wir verstehen, dass die eine Sprache nicht wertvoller oder “besser” ist als eine andere. Damit wird der Weg frei für eine wertneutrale Orientierung in der sprachlich-kulturellen Interaktion. Das Miteinander-Handeln kann sich entfalten, ohne dass sich wegen negativer Wertungen schädliche Konfliktstoffe ansammeln.

 

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